Kindheitserinnerungen unserer Lehrerin

Besuch bei meinen Großeltern in Leuna

 

Bei der näheren Beschäftigung mit der Erzählung von Christa Wolf wurden bei mir Kindheitserinnerungen wach. Die Stadt Halle ? da ist doch meine Mutter geboren. Die Chemiewerke, ja richtig, mein Großvater hat sein ganzes Leben im Leuna-Werk gearbeitet. Ende der fünfziger Jahre haben wir meine Großeltern in den Ferien besucht.

Wie immer bei Kindheitserinnerungen gibt es Dinge, an die man sich noch genau zu erinnern meint und andere, die so oft erzählt wurden, dass man meint, sich noch daran zu erinnern.

Im folgenden erzähle ich einige Momentaufnahmen dieser Erinnerungen : die Reise, das Haus meiner Großeltern, das Leuna-Werk, Einkauf in einem HO-Laden, Besuch in einer LPG, Geschichte meiner Großeltern.

Die Reise nach Leuna

Meine Mutter und meine beiden Schwestern sind in den Sommerferien in die Zone gefahren, um unsere Großeltern zu besuchen. Wir sind mit dem Zug gefahren und unsere Reise wurde in Helmstedt-Marienborn unterbrochen. Diese Stadt war damals der größte Grenzübergang von Deutschland nach Deutschland, von der BRD in die DDR, sowie für den Zug- als auch für den Autoverkehr.

Wegen Lokomotivaustausch und Personalwechsel war der Grenzübergang immer besonders langweilig, es ging einfach nicht weiter. Der Zug stand, und während vorher im Abteil noch lustig geplaudert wurde, schwiegen auf einmal alle Mitreisenden und uns war schon vorher eingebläut worden, uns besonders still zu verhalten.

Viele verschiedene uniformierte Personen kamen und gingen, Reisepässe und Visa wurden kontrolliert, Prospekte mit DDR-Propaganda wurden verteilt und das Gepäck wurde untersucht. Eine Mitreisende musste vor uns allen ihren Koffer öffnen. Die Volkspolizistin durchwühlte diverse Kleidungsstücke und brachte dann mehrere Groschenromane zum Vorschein. "Sie wissen, dass es verboten ist West-Zeitungen in unser Land einzuführen ? - " "Ja schon, aber es sind doch einfache Silvia-Romane, Liebesromane für meine Nichten". - "Und was ist das hier ?" Die Dame hatte ihre Schuhe in altes Zeitungspapier gepackt. "Koffer zu und mitkommen !!!" Das fand ich nun doch übertrieben und ungerecht, ich raffte die sozialistischen Prospekte zusammen mit den Worten "Also, wenn Zeitungen hier verboten sind, dann nehmen Sie die hier doch auch mit !" Eisiges Schweigen, meine Mutter leichenblass, jeder sah auf seine Füße. Ohne Kommentar verließ die Polizistin mit der Dame das Abteil. Wir haben sie nie wieder gesehen, obwohl sie wie wir dasselbe Reiseziel die Stadt Halle hatte.

Ankunft in Leuna

Unsere Großmutter holte uns am Bahnhof in Halle ab. Nach einer kleinen Pause (ich durfte zum ersten mal in meinem Leben Malzbier trinken) ging es mit der Straßenbahn weiter nach Leuna. Meine Großeltern wohnten seit 1925 in einer Arbeitersiedlung des Leunawerkes. Es war ein Doppelhaus, dessen eine Hälfte im 2. Weltkrieg zerstört wurde (das Leunawerk war ein beliebtes Ziel von alliierten Luftangriffen). Von der Nachbarhälfte standen nur noch einige Außenmauern, der Rest war eine Ruine und nur mit Brettern vernagelt.

vorher

nachher

Im Vorgarten, statt Rasen oder Blumen, ein Hühnerstall, hinter dem Haus ein großer Gemüsegarten. Da es den Leuten in der DDR damals sehr schlecht ging, versuchten sie sich so gut wie möglich selbst zu versorgen und das mit eigenen Hühnern, Kaninchen und Gemüse aus dem Garten. In der Vorratskammer meiner Großmutter sah es auch entsprechend aus : in großen Tontöpfen gab es eingelegte Eier (Soleier), Gewürzgurken und aus Zuckerrüben selbstgekochter Sirup, den es zum Frühstück statt Nutella gab. Marmeladengläser, Kompott und eingekochtes Gemüse gab es natürlich auch. Im Erdgeschoss gab es neben der Vorratskammer, eine kleine Küche, ein großes Wohn- und Esszimmer und das Herrenzimmer, die sogenannte gute Stube, das nur zu besonderen Anlässen benutzt wurde. Hier gab es schwere Eichenmöbel, an den Wänden Federzeichnungen von Fasanen und Rotwild (mein Großvater war früher ein begeisterter Jäger). In diesem Zimmer gab es auch einen großen Bücherschrank mit einer Glastür und hinter dieser Tür gab es die üblichen bemalten Mokkatassen und einen rosafarbenen Glasstein, der mich als Kind immer sehr fasziniert hat, warum weiß ich bis heute noch nicht. Aber dieser Stein ist (nach vielen Umwegen) in meinem Besitz und wird nun von meinen Enkelkindern als Omas Schatz bewundert.

Das Leunawerk

Unsere größte Freude war es damals unseren Opa von seiner Arbeit abzuholen. Wir wohnten nicht weit vom Leunawerk und Punkt 16 Uhr, wenn die Sirenen tönten standen wir am Werkstor und sahen Tausende von Menschen aus den Toren strömen. Für uns war es immer ein Spiel, wer als erster unseren Opa entdeckte, der uns immer schmunzelnd und stolz entgegenkam, in der Hand eine alte, zerwetzte Ledertasche, in der er sein Mittagsbrot transportierte.

Einkauf in einem HO-Laden.

Einzukaufen, war keine große Freude, denn die Läden waren nicht so wie bei uns im Westen. Die Schaufenster waren verstaubt und fast leer, manchmal standen die Leute Schlange, weil es hieß, es gäbe heute eine Ladung Zitrusfrüchte oder Kernseife. Einmal wollten wir Schokolade kaufen und wir waren richtig froh statt Blockschokolade eine für uns bekannte Marke zu entdecken, aber meine Mutter hat sie dann trotz unserer großen Enttäuschung doch nicht gekauft. Sie erklärte uns später, dass diese Schokolade wahrscheinlich aus einem konfiszierten Westpaket kam, denn auf der Rückseite standen die Worte "Laß es dir gut schmecken, deine Oma".

Um uns eine Freude zu machen, kaufte uns unsere Oma ein Wappenarmband. Es ist ein silbernes Gliederarmband an das man silberne Wappen als Souvenir festmacht. Auf vielen unserer späteren Reisen haben wir solche Wappen gekauft, diese Armbänder existieren heute noch.

Besuch auf einer LPG

Der Besuch auf einem Bauernhof sollte ein freudiges Wiedersehen mit der besten Freundin meiner Mutter werden, aber irgendwie kam die Freude nicht richtig auf. Meine Mutter hatte ihre beste Schulfreundin mehrere Jahre nicht gesehen, sie hatten aber regelmäßig Briefkontakt (bekam Westpakete von uns) und außerdem war sie die Patentante meiner Schwester. Tante T. war die Tochter von Bauern, hatte einen Bauer geheiratet und den großen Hof ihrer Eltern geerbt. Wie aller Privatbesitz, wurde auch ihr Hof verstaatlicht und in eine LPG eingegliedert. Sie und ihr Mann waren jetzt Angestellte auf ihrem eigenen Bauernhof. Der einst blühende, schöne Besitz, war total heruntergewirtschaftet, verrostete Maschinen standen herum, Farbe blätterte von von den einst lackierten Zäunen, alles ziemlich trostlos. Tante T. erzählte uns, wie schwierig es jetzt war zu arbeiten, da alle gleichgestellt waren und keiner sich mehr für den Hof verantwortlich fühlte. Wenn früher z.B vor der Heuernte ein Gewitter drohte, dann packten alle mit an, um das Heu noch vor dem Regen einzufahren, heute dagegen machten alle gleichzeitig Schluß, egal welches Wetter, egal welche Ernte. War früher eine landwirtschaftliche Maschine defekt, wurde sie sofort repariert, heute mußte ein Antrag auf Ersatzteile bei der LPG eingereicht werden, und wenn es keine Ersatzteile gab, dann blieb die Maschine eben liegen und verrostete und es kümmerte niemanden. So also die Wirklichkeit im vielgelobten Arbeiter- und Bauernstaat.

Geschichte meiner Großeltern

Um das Bild meiner ersten Eindrücke noch zu verdeutlichen, werde ich Ihnen das weitere Leben meiner Großeltern erzählen. Sie hatten sich in den jungen Jahren ihrer Ehe mit viel Mühe und unter vielen Entbehrungen ein Haus gebaut, in dem sie ihren Lebensabend verbringen wollten, da sie nach der Pensionierung die Werkswohnung verlassen mußten.Solange sie selbst nicht dort wohnten, wurde das Haus vermietet. Trotz aller Bemühungen der Werkleitung und Briefen an den Bürgermeister ist es meinen Großeltern nie gelungen, in ihr eigenes Haus zu ziehen, denn die Mieter waren linientreue Parteigenossen und wollten nicht ausziehen.

Auf dem Dachboden der Werkswohnung hatte mein Großvater ein Andenken an seinen Bruder versteckt (seine beiden Brüder waren im 1. Weltkrieg gefallen). Dieses Andenken war eine alte Pistole und mein Großvater hatte sie nicht abgegeben, obwohl es in der DDR verboten war, eine Waffe zu besitzen. Kinder fanden beim spielen auf dem Dachboden, der nur mit Holzbrettern zur nachbarlichen Ruine verschlossen war, eben diese Pistole und zeigten meinen Großvater an. Er mußte wegen dieser alten Pistole mehrere Monate ins Gefängnis. Dieser Vorfall und die Unmöglichkeit in das eigene Haus zu ziehen, hat meine Großeltern veranlaßt, Ende der sechziger in die BRD zu ihren Kindern zu ziehen. Rentner durften damals ohne Schwierigkeiten auswandern, denn dadurch sparte die DDR ihre Rente für sie.

Meine Großeltern mußten alle ihre Möbel in der DDR lassen, sie durften keine Wertsachen mitnehmen und mußten ihr Geld auf einem Sperrkonto lassen. Den wertlosen Glasstein aus dem Herrenzimmer haben sie mitgenommen. Im Westen fingen sie mit 70 Jahren noch einmal von vorne an. Ihr Gemüsegarten war wieder in voller Pracht, wenn ich sie damals, diesmal mit meinen Kindern, ihren beiden Urenkeln, besuchte.

 

G.Duquenne